Pioniere der pädagogischen Gruppenarbeit. Ruth C. Cohn und das Konzept der Themenzentrierten Interaktion (TZI)

Ruth C Cohn - Das Konzept der Themenzentrierten Interaktion (TZI)
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Themenzentrierte Interaktion (TZI) bietet einen geeigneten pädagogischen Rahmen für die Arbeit mit Gruppen. Themenzentriertes Arbeiten besteht im Wesentlichen darin, das im Mittelpunkt stehende Thema und die Interaktion der Gruppenmitglieder so aufeinander zu beziehen, dass persönliches Wachstum in einem gemeinsamen Prozess lebendigen Lernens ermöglicht und gefördert wird.

Förderung von Leben und Wachstum – das ist die kürzeste Formel für das, was TZI zutiefst will.

Paul Matzdorf 1993, S. 340
In der Arbeit mit und in Gruppen besteht themenzentriertes Arbeiten im Wesentlichen darin, das im Mittelpunkt stehende Thema und die Interaktion der Gruppenmitglieder so aufeinander zu beziehen, dass persönliches Wachstum in einem gemeinsamen Prozess lebendigen Lernens ermöglicht und gefördert wird.

Das Thema als Mittelpunkt von Lern- und Arbeitsgruppen

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Themenzentrierte Interaktion steht – wie der Name schon andeutet – für zweierlei: Thema und Interaktion. Das Thema kann einen Inhalt, eine Sache, um die es geht, oder eine Aufgabe darstellen. Als Mittelpunkt von Lern- und Arbeitsgruppen verbindet es die einzelnen Teilnehmer/innen einer Gruppe miteinander. Die Interaktion der Gruppenmitglieder, ihr Austausch und ihre Auseinandersetzung untereinander ist auf einen gemeinsamen Bezugspunkt, das Thema, zentriert. Thematisches, sachliches Arbeiten einerseits und der Umgang miteinander andererseits werden also in der Themenzentrierten Interaktion aufeinander bezogen: Inhalten und Beziehungen soll die gleiche Bedeutung zukommen, Stofflernen soll mit persönlichem und sozialem Lernen einhergehen. Zentrales Anliegen der Themenzentrierten Interaktion ist es, ein Lernen zu ermöglichen, das Freude macht, weil es ein lebendiges, ganzheitliches Lernen (Stollberg 1982) ist: Die Lernenden sollen sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit, ihren Kenntnissen, Vorerfahrungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Eigenheiten usw. in den gemeinsamen Arbeitsprozess einbringen können.

In Lern- und Arbeitsgruppen nach dem TZI-Konzept wird versucht, ein Optimum (nicht ein Maximum) an Themenzentriertheit zu erreichen. Sich über ein bestimmtes Thema hinaus mit etwas anderem zu beschäftigen, ist keineswegs Tabu – im Gegenteil: von Zeit zu Zeit ist es angebracht oder sogar wünschenswert, vom Thema abzuweichen, insbesondere dann, wenn es so lange im Mittelpunkt stand, dass persönliche Reaktionen (auf das Thema, auf andere Gruppenmitglieder oder auf Umfeldeinflüsse) im Prozess bisher ausgeblendet worden sind. In der Themenzentrierten Interaktion werden die Persönlichkeit des einzelnen (das Ich), die Gruppe (das Wir), die gemeinsam zu bearbeitende Aufgabe (das Thema) innerhalb bedingender Umfeldeinflüsse (des Globes) als gleichgewichtige Faktoren des Gruppengeschehens angesehen (vgl. Abb.).

 
TZI Strukturmodell
Abb. Strukturmodell der Themenzentrierten Interaktion

„Symbolisch kann diese Konstellation als gleichseitiges Dreieck in einer vielschichtig-transparenten Kugel ausgedrückt werden: Ich, Wir und Es sind gleich wichtig, ebenso wie unsere nahe und ferne Umgebung, der »Globe«“ (Farau & Cohn 1984, S. 352). Ein Ungleichgewicht dieser Faktoren verlangt, die Dynamik des Gruppengeschehens wieder auszubalancieren, damit Lernen und Arbeiten in einer Gruppe nicht stagnieren, sondern lebendig bleiben.

Die Balance zwischen den einzelnen Personen, der Gruppe, dem Thema und den Rahmenbedingungen ist niemals vollkommen. Aufgabe der Gruppenleiter/innen bzw. der Lehrer/innen ist es, den Arbeitsprozess der Gruppe so zu strukturieren, dass persönliche Reaktionen einzelner, Interaktionen der Beteiligten, Aufgaben- bzw. Themenbearbeitung und die Einflüsse des Umfelds im Gesamtprozess in einem ausgewogenen Verhältnis, einem dynamischen Gleichgewicht, zueinander stehen.

Das Prinzip der dynamische Balance geht über das Ich-Wir-Thema im Globe hinaus. Angestrebt wird ein Gleichgewicht zwischen Aktivität und Ruhe, Nähe und Distanz, Reden und Schweigen, zwischen Denken, Fühlen und Handeln usw. Für Unterricht und Gruppenarbeit bedeutet dies, abzuwechseln zwischen Kopf-, Herz- und Handarbeit, zwischen Frontalunterricht und Lehrgespräch, einzel-, partner- und gruppenbezogenen Aktivitäten usw. Gleichgewicht-Halten wird in der Themenzentrierten Interaktion keineswegs als Selbstzweck oder als »Abwechslung um jeden Preis« verstanden, vielmehr weist das Prinzip der dynamischen Balance auf die Erkenntnis, dass jedes Individuum einen anderen Zugang zum Thema wählt, der seinen Vorkenntnissen und Vorerfahrungen, aber auch seiner Eigenart entspricht. Das Thema erfüllt hier die Funktion, den Gegenstand so in den Mittelpunkt der Gruppe zu stellen, dass die Gruppenmitglieder einen (für sie) motivierenden Einstieg in das Thema finden können. Das Thema – schreibt Ruth Cohn – ist „wie ein runder, zu erkundender Raum, der sehr viele Eingangstüren hat, weil es viele Wege zu ihm gibt.“ (Farau & Cohn 1984, S. 364)

Das Konzept der Themenzentrierten Interaktion enthält methodische Anregungen bei der Formulierung und Einführung von Themen. Es enthält Hilfestellungen für das Initiieren und Begleiten von Gruppenprozessen, für die Planung, Durchführung und Auswertung von Unterricht. Themenzentrierte Interaktion ist aber mehr als (nur) eine Methode: sie ist eine Alternative zur bloßen Vermittlung von Inhalten. Sie ist eine Haltung, eine Möglichkeit, lebendig zu lernen. (vgl. Meister 1983, S. 1)

Haltung und Methode in der Themenzentrierten Interaktion

Grundlegend für die Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn sind Axiome und daraus abgeleitete Postulate. Arbeitsprinzipien und Hilfsregeln unterstützen die Arbeit mit der Themenzentrierten Interaktion. Die Axiome stellen Voraussetzungen dar, auf denen die Themenzentrierte Interaktion beruht. Sie lassen sich nicht begründen, weil sie selbst unabdingbare, aber nicht unbe­dingte Grundlage und Begründung des Systems darstellen. „Ohne die Anerkennung dieser Grundsätze wird TZI-Methodik zur sich selbst verneinenden Technologie.“ (Farau & Cohn 1984, S. 356)

Diese Grundsätze werden in den Postulaten verdeutlicht und konkretisiert. Demnach sind die Postulate keine auswechselbaren Spielregeln, sondern grundlegende methodische Prinzipien für das Anleiten und Begleiten von Gruppen. In den Axiomen und Postulaten spiegeln sich Sinnhaftigkeit und Wertorientierung der Themenzentrierten Interaktion, während in den Arbeitsprinzipien und Hilfsregeln konkrete methodische Handlungsweisen und Interventionstechniken dargestellt sind. Damit will die Themenzentrierte Interaktion dem Anspruch gerecht werden, beides zu sein: Haltung und Methode.

Axiome und Postulate, Arbeitsprinzipien und Hilfsregeln

Die grundlegenden Axiome beinhalten die Einsicht, daß jedes Individuum gleichzeitig autonom (eigenständig) und interdependent (mit allem und allen verbunden) ist. Selbstbestimmung und Selbständigkeit eines Individuums wachsen demnach mit zunehmender Bewusstheit seiner Allverbundenheit. Daran angebunden ist das Paradox der »Freiheit in Bedingtheit«. Freie Entscheidung ist nur innerhalb bedingender Grenzen möglich, eine Ausweitung bzw. Erweiterung innerer wie äußerer Grenzen ist jedoch prinzipiell möglich. Darüber hinaus enthalten die Axiome die Aufforderung, Anderssein zu akzeptieren und allem Lebendigen, Wertschätzung und Respekt entgegenzubringen. Die Förderung lebendigen Lernens, eines ganzheitlichen und zugleich lebenslangen Lernens, gehört zum zentralen Anliegen der Themenzentrierten Interaktion.

Die in den Axiomen enthaltenen Grundsätze lassen sich anhand der beiden Postulate »Sei deine eigene Chairperson« (»Chairperson«: Vorsitzende/r, Leiter/in, Sprecher/in einer Gruppe, vgl. Cohn 1974, S. 120) und »Störungen haben Vorrang« näher bestimmen. Das Chairperson-Postulat fordert und ermutigt den einzelnen, selbst die Verantwortung für sein/ihr Lernen zu übernehmen (als sein/e eigene/r Leiter/in) und auch andere in ihrem Lernen zu unterstützen (als Leiter/in einer Gruppe). Das Störungspostulat enthält die Aufforderung, Störungen und Betroffenheit besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Es sensibilisiert den einzel­nen für die Wahrnehmung von Lernhindernissen – Hindernissen, die in der eigenen Persönlichkeit, in der Dynamik des Gruppengeschehens, im Thema oder im Umfeld liegen können. Sie können sich in vielerlei Gestalt äußern, z.B. als Ablenkung, Langeweile oder Unkonzentriertheit, als Widerstand gegen das Thema, in Konflikten, Konkurrenzverhalten und Rivalität usw. Solche »Störungen« werden in der Themenzentrierten Interaktion ernst genommen, aber nur soweit bearbeitet, bis alle sich wieder mit ihrer ganzen Aufmerksamkeit dem Thema zuwenden können.

Die Arbeitsprinzipien stellen eine Verbindung zwischen Postulaten und Hilfsregeln her. Das Prinzip der dynamischen Balance zwischen Ich-Wir-Es im Globe ist die zentrale Arbeitshypothese der Themenzentrierten Interaktion. Auch zwischen den Aspekten des Struktur-Prozess-Modells herrscht im Idealfall eine Balance: der gemeinsame Arbeitsprozess einer Gruppe bedarf einer klaren Struktur, die – unter Berücksichtigung von Gruppenprozess und Gruppenklima – von der Leitung gesetzt wird. Angestrebt wird ein akzeptierendes, Vertrauen förderndes Klima, damit das Potential aller Gruppenmitglieder in den Prozess miteingebracht werden kann. Die Gruppenleiter/innen nehmen als Modellteilnehmer/innen ebenso Anteil am Gruppengeschehen wie die anderen Gruppenmitglieder. Sie übernehmen zusätzlich die Funktion, Lern- und Arbeitsprozesse so zu organisieren, dass die beiden Arbeitsprinzipien gewahrt bleiben. Gruppenleiter/innen und Lehrer/innen praktizieren einen partizipierenden Leitungsstil.

Hilfsregeln sollen Gruppenleiter/innen und Lehrer/innen darin unterstützen, themenzen­triert zu arbeiten und lebendiges Lernen zu fördern. Diese Regeln beinhalten z.B. Aufforderungen, Signale aus der Körpersprache zu beachten oder Verallgemeinerungen und Interpretationen zu vermeiden und statt dessen persönliche Reaktionen auszusprechen (vgl. z.B. Matzdorf & Cohn 1992, S. 76f.). Solche und andere Regeln dienen als konkre­te Interventionshilfen bzw. Techniken dazu, die Intentionen der Axiome und Postulate im Gruppenprozess umzusetzen. Als starrer Regelkatalog, ohne ein Verständnis für Sinnhaf­tigkeit und Wertorientierung der Themenzentrierten Interaktion, leisten die Hilfsregeln Intoleranz und Dogmatismus Vorschub (vgl. Farau & Cohn 1984, S. 361ff).

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Zusammenfassend lässt sich die Themenzentrierte Interaktion als System von Axiomen und Postulaten, Ar­beitsprinzipien und Hilfsregeln umschreiben. Dieses System enthält:

  • in seinen Axiomen eine anthropologische Grundlage und Wertebasis,
  • in seinen Postulaten methodische (Grund-)Prinzipien,
  • in seinen Arbeitsprinzipien ein System von methodischen Handlungsanleitungen und
  • in seinen Hilfsregeln Beispiele für Interventionstechniken.

Helmut Reiser (vgl. Reiser 1993, S. 68) bezeichnet diese in sich schlüssige Form der Darstellung als »Standardverfahren« der Themenzentrierte Interaktion. Das Standardverfahren lässt zunächst offen, wie die Themenzentrierte Interaktion mit dem jeweiligen fachspezifischen Hintergrund, dem eigenen Theoriewissen und den eigenen Handlungskompetenzen verbunden werden kann. Paul Matzdorf und Ruth Cohn bezeichnen die Themenzentrierte Interaktion daher als »Kerngefüge«, dessen »Kern« „ein explizites und implizites Potential an praktischen und theoretischen Aussagen [enthält], die – aufgedeckt, entwickelt und präzisiert – das System hinsichtlich seiner theoretischen Reichweite und konkreten Anwendungsmöglichkeiten fundieren und erweitern.“ (Matzdorf & Cohn 1992, S. 53)

Literaturhinweise

Cohn, Ruth C. (1974): Zur Grundlage des themenzentrierten interaktionellen Systems: Axiome, Postulate, Hilfsregeln; in: Cohn, R.C. 1975a, S. 120-128
Farau, Alfred & Cohn, Ruth C. (1984): Gelebte Geschichte der Psychotherapie. Zwei Perspekti­ven; Klett-Cotta, Stuttgart, 2.Aufl., 1993
Kimmig, Michael & Meister, Hans (1995): Ganzheitliches Lernen in der Kaufmännischen Berufsschule. Konzepte und Erfahrungen der Wissenschaftlichen Begleitung eines Modellversuchs; Arbeitsberichte aus der Fachrichtung Erziehungswissenschaft, Universität des Saarlandes, Bd. 67, Saarbrücken
Matzdorf, Paul (1993): Das »TZI-Haus«. Zur praxisnahen Grundlegung eines pädagogischen Handlungssystems; in: Cohn, R.C. & Terfurth,C. (Hrsg.): TZI macht Schule: Lebendiges Lehren und Lernen; Klett-Cotta, Stuttgart, S. 332-387
Matzdorf, Paul & Cohn, Ruth C. (1992): Das Konzept der Themenzentrierten Interaktion; in: Löhmer, C. & Standhardt, R. (Hrsg.): TZI: Pädagogisch-therapeutische Gruppenarbeit nach Ruth C.Cohn; Klett-Cotta Verl., Stuttgart, 3.Aufl., 1995, S. 39-92
Meister, Hans (1983a): Themenzentrierte Interaktion (unveröffentlichtes Manuskript)
Reiser, Helmut (1993): Die TZI als pädagogisches System; in: Themenzentrierte Interaktion 7 (2), S. 52-70
Stollberg, Dietrich. (1982): Lernen, weil es Freude macht; Kösel Verl., München, 2.Aufl., 1990

Quelle: Kimmig, Michael (1996): Themenzentrierte Interaktion (TZI) im Rahmen von Schulbegleitforschung. Instrumente und Verfahren für die Evaluation und die begleitende Beratung von Schulversuchen; Diplomarbeit Universität des Saarlandes, Saarbrücken, 1996